Die Stuttgarter Seilbahn
Stuttgarts schönste schräge Sache
In vier Minuten vom hektischen Großstadttrubel mitten in die ruhigste Waldidylle … die Fahrt mit der Stuttgarter Standseilbahn auf der Linie 20 ist immer ein Erlebnis. Die ungewöhnliche Verbindung von der Talstation "Südheimer Platz" in Heslach bis zum Stuttgarter "Waldfriedhof" wurde 1929 erstmals in Betrieb genommen. Die beiden Wagen, die nach dem Gewichtsausgleichsprinzip nahezu geräuschlos betrieben werden, sind noch heute weitestgehend im Originalzustand und wurden zum 75-jährigen Jubiläum feinfühlig restauriert. Waren es früher hauptsächlich Besucher des Waldfriedhofes, die das ungewöhnliche Transportmittel nutzten (daher der augenzwinkernde Name "Erbschleicherexpress"), so bilden heute auch Wandergruppen, technikbegeisterte Familien, Schulklassen und Touristen ihr typisches Publikum.
Durch die Einführung neuer internationaler Vorschriften für Seilbahnen musste der Fortbestand der Standseilbahn 2003 zunächst einmal in Frage gestellt werden – schließlich waren dadurch umfangreiche Renovierungsarbeiten notwendig geworden. Dann aber wurde doch beschlossen, dieses faszinierende Transportmittel zu erhalten, und in Zusammenarbeit mit den Denkmalbehörden ein neues Konzept der "sanften" Modernisierung erarbeitet. Dadurch wurde die Heslacher Seilbahn zur ersten EU-zertifizierten Seilbahn Europas. Seither, behutsam erneuert, ist der Fortbestand der Stuttgarter Standseilbahn für die nächsten Jahrzehnte technisch gesichert.
Was ist das für eine Bahn?
Ihre beiden Wagen sind immer gleichzeitig unterwegs – aber nie treffen sie auf dem gleichen Gleis zusammen. Wie schnell oder langsam sie sich auch bewegen – stets haben sie die gleiche Geschwindigkeit. Egal, ob die Wagen aufeinander zufahren oder sich entfernen – am Seil haben sie den gleichen Abstand. Die Weichen der Bahn werden abwechselnd in verschiedenen Richtungen befahren – aber sie müssen nicht umgestellt werden. Mal fahren die Wagen links aneinander vorbei, mal rechts – aber immer mit System. Ständig überwinden ihre Wagen einen enormen Höhenunterschied – aber die Bahn braucht fast keine Energie. Was ist das für eine Bahn? Es ist eine Standseilbahn...
Buch zur Seilbahn
"Stuttgarts schönste schräge Sache" - Der Erbschleicherexpress
96 Seiten zu über 80 Jahren Geschichte! Wir haben unserer Standseilbahn und ihrer Historie ein neues Buch gegönnt - voller spannender Geschichte(n) und jeder Menge interessanter Fotos. Für 15,80 Euro in unserem Museums-Shop erhältlich. Format 21x21cm, Klebebindung; ISBN: 978-3981980370.
Fortschrittlich, wirtschaftlich und zeitlos schön
Bei ihrer Eröffnung war die Stuttgarter Seilbahn die erste in Deutschland mit automatischer Steuerung: Die Wagenbegleiter drücken zur Abfahrt nur eine Taste, alles andere geht dann von alleine. Einen Maschinisten am Fahrpult brauchte es deshalb nicht. Und sie war die schnellste Bahn ihrer Art. Auch der Fahrscheinverkauf ging von Anfang an "automatisch": durch Stuttgarts erste Fahrscheinautomaten, die es nur bei der Seilbahn gab. Denn die SSB wollten nicht nur eine moderne Bahn: Nur durch die eingesparten Personalkosten für Schaffner und Maschinisten war der Betrieb überhaupt finanzierbar. 1929 herrschte Wirtschaftskrise!
Kostendeckend konnte die Bahn nie fahren, aber bis heute ist sie dennoch das effektivste und wirtschaftlichste öffentliche Verkehrsmittel für den Betrieb zum Waldfriedhof und deshalb unersetzbar. Die hügelige und kurvige Streckenführung ist absichtlich gewählt worden: Die Baukosten sollten niedrig sein, und man wollte – ganz ökologisch – den Wald möglichst schonen und die Bahn unauffällig in die Landschaft einfügen. Übliche Schienenfahrzeuge wären 1929 äußerlich schon wesentlich moderner und eleganter gestaltet worden als die eckigen Teakholzwagen der Seilbahn.
Und der puristische und sparsame Bauhausstil der beiden Stationsgebäude wäre bei einer Touristik- und Ausflugsbahn sicherlich festlicher ausgefallen. Aber die Baulichkeiten nüchtern, die Wagen in der tröstlich-heimeligen "Holzklasse", dies hat sich bis heute als treffend und zeitlos erwiesen und war und ist einer "Friedhofsbahn" wohl überlegt und angemessen.
Zahlen und Fakten
Antrieb | Elektromotor in der Bergstation im neuen Anbau; 400 V Spannung, 110 kW Leistung; Drehstrom-Asynchronmotor, 1.418 U / min; 2-rillige Treibscheibe (2.800 mm Durchmesser), 2-rillige Umlenkscheibe, waagerecht gelagert |
Bauart | Standseilbahn (Schienenseilbahn) |
Baujahr | 1929 |
Bremsen | elektrische Widerstandsbremse (Motorbremse); Windwerk: 1 Scheibenbremse (Betriebsbremsen), 3 Scheibenbremsen auf die Treibscheibe (Sicherheitsbremse); Fahrzeuge: 2 Zangenbremsen (Fangbremsen), hydraulische Auslösung je nach Last, Steigung, Tempo |
Förderleistung | maximal 75 Personen pro Wagen (22 Sitzplätze, 52 Stehplätze, 1 Begleiterplatz) pro Stunde maximal ca. 8 bis 9 Fahrten |
Fahrgäste | höchste Tagesleistung war am 23.11.1930 mit 6.671 Personen |
Fahrtzeit | 4 Minuten; Abfahrt täglich 9:10 Uhr bis 17:50 Uhr |
Ticket | (Es gelten auch: DeutschlandTicket, BaWü-Ticket der DB, Metropol-Tagesticket & Interrail) |
Geschwindigkeit | maximal 3,1 m/s (ca. 11 km/h) |
Höhendifferenz | 87 m |
Neigung | 28,2 % (steilste SSB-Schienenstrecke) |
Personal | 2 Personen (1 Begleiter pro Wagen) |
Höhenlage | Talstation 297 m, Bergstation 382 m |
Sicherheit | tägliche Funktionsprüfung der Anlage (vor Betriebsbeginn) als Grundprüfung; vierteljährliche Seilprüfung; jährliche Prüfung der Gesamteinrichtung mit Seilprüfung |
Spurweite | 1.000 mm (Meterspur, wie frühere SSB-Straßenbahn) |
Stahlseil | kombinierte Zugseil-Gegenseil-Anordnung, Umlenkung in beiden Stationen, Wagenbewegung unabhängig von der Schwerkraft durch Seilzug; Seillänge Zugseil: ca. 600 m; Durchmesser: 35 mm; Masse: gesamt ca. 3,43 t; Gegenseil: Durchmesser 18 mm |
Steuerung | elektronische, selbstüberwachende speicherprogrammierbare Steuerung; Signalübertragung über Linienleiter im Gleis |
Streckenlänge | 536 m, 1 Ausweiche |
Stromleitung | Frühere Signalleitung heute als Baumfallmelder durch Stromkreisunterbrechung, Stromschiene in den Stationen, für Batterieversorgung der Wagen und Frischstrom- und Speicherheizung |
Wagen | 2 (einer an jedem Ende des Zugseiles), Maße: 9.800 mm Länge, 2.200 mm Breite, 7.800 kg Leergewicht, 13.425 kg Gesamtgewicht |
Die Geschichte der Seilbahn
1914 | Eröffnung des Stuttgarter Waldfriedhofs |
1928 | Einrichtung der Buslinie "W" zum Waldfriedhof durch die Stuttgarter Kraftwagenlinien-Gesellschaft SKG, Baubeschluss für die Standseilbahn |
1929 | Bau der Seilbahn (von März bis September) |
1951 | 19. November: erste Fahrt werktags statt um 9 Uhr bereits um 6:30 Uhr "für Berufspendler" |
1986 | Einstufung als Kulturdenkmal nach § 2 des Landesdenkmalschutzgesetzes |
1999 | 26. Dezember: starke Beschädigung des Wagen Nr. 1 durch den Orkan Lothar; Bahn außer Betrieb |
2000 | 9. Februar: Bahn wieder im Einsatz |
2003 | 2. November: Einstellung des Betriebs, Beginn der Sanierungs- und Umbauarbeiten |
2004 | 24. Juli: Wiederinbetriebnahme mit neuer Antriebstechnik |
2007 | Sonderpreis für die SSB im Rahmen des Denkmalschutzpreises Baden-Württemberg durch den Schwäbischen Heimatbund. Auszeichnung für die behutsame Sanierung und Modernisierung von 2004 „mit kreativen Ideen und mühevoller Kleinarbeit unter Wahrung des ursprünglichen Charakters“ |
2014 | Die Seilbahn besteht 85 Jahre |