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Stuttgarts Zahnradbahn: Neue Wagen im Bau

Gute Nachricht aus der Schweiz: Die neuen Triebwagen für die Zahnradbahn in Stuttgart nehmen Gestalt an. Beim Hersteller Stadler Rail beginnt nun die Montage des ersten Fahrzeugs. Im Herbst dieses Jahres soll dieses erste Exemplar in Stuttgart Einzug halten. Auch der Umbau der Betriebswerkstatt für die Zahnradstrecke im Stuttgarter Süden kommt voran.

Eine leibhaftige Zahnradbahn als tägliches Nahverkehrsmittel, so etwas gibt es nur in Stuttgart. Auf der zwei Kilometer langen Strecke zwischen Marienplatz und Degerloch pendeln die gelben Wagen der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) jeden Tag von sechs bis 21 Uhr im Viertelstundentakt. Etwa 2800 Fahrgäste pro Tag nutzen die fast bis zu 18 Prozent steile Verbindung. Darunter sind zahlreiche Fahrradpendler, die ihr Vehikel für die steile Rückfahrt den flachen Transportloren anvertrauen, den die elektrischen Triebwagen vor sich her schieben. Doch die heutigen Triebwagen stammen von Anfang der 1980er Jahre, sie sind nicht barrierefrei und haben allmählich das Ende ihrer wirtschaftlichen Nutzungszeit erreicht.

Daher fertigt der schweizerische Hersteller von Schienenfahrzeugen, Stadler Rail, für die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) drei neue Triebwagen. Dazu kommen drei neue, größere Fahrradwagen. Wie bei Sonderaufträgen üblich, stellt das erste Serienfahrzeug auch gleichzeitig das Testfahrzeug dar, mit dem sämtliche der Probe- und Einstellfahrten an seinem Bestimmungsort, also Stuttgart, durchgeführt werden. Die Systemeigenschaften der Stuttgarter Zahnradbahn in der Kombination aus Meterspur, tiefliegender Zahnstange und der Art der Stromversorgung sind weltweit einmalig, so dass es für die Erprobung keine andere Möglichkeit gibt als in Stuttgart selbst. Natürlich werden die „schweren“ Hauptbaugruppen für alle Wagen zur rationellen Fertigung direkt hintereinander geschaffen und nach und nach montiert. Beim ersten Wagen erfolgte nun die Abnahme des Rohbaues durch die Techniker der SSB, die dazu in die Schweiz reisten. Während anschließend das erste Fahrzeug die Lackierung durchläuft und dann die mechanischen und elektrischen Baugruppen wie Drehgestelle mit Motoren, Verkabelung und Fahrerplätze folgen, wird der Wagenkasten für den zweiten Wagen entstehen. Im Laufe des Sommers werden somit voraussichtlich die drei Stuttgarter Einheiten in drei verschiedenen Bauzuständen bei Stadler anzutreffen sein, allerdings nicht in der gleichen Werkhalle: einer bereits allmählich fahrfähig, einer in der Baugruppenmontage, einer in Rohteilen.

 

Spezialist aus der Schweiz

Stadler ist ein traditionsreicher Hersteller von Nah- und Fernverkehrszügen, Lokomotiven, Stadtbahnen und Zahnradbahnen. Von ihm stammt nicht nur der aktuelle Fahrzeugpark für die üblichen Stadtbahnwagen der SSB auf ihrem 200 Kilometer langen Stadtbahnnetz in Stuttgart und Region. In den Werken von Stadler, insbesondere in der Schweiz, entstehen unter anderem verschiedenste Bergbahnen und Sonderfahrzeuge. Weltweit beziehen Betreiber von Zahnradbahnen ihr neues Fahrzeugmaterial von Stadler, aus den Werkhallen in Bussnang im Thurgau. Die Fahrradwagen für Stuttgart, eine anspruchsvolle Leichtbauweise, entstehen bei der Firma Steck im Emmental im Auftrag von Stadler.


Während der erste nach Stuttgart kommende Wagen im Laufe des Herbstes Einstellfahrten absolvieren wird, wird das zweite Fahrzeug folgen, da dann auch der gemeinsame Einsatz von zwei Wagen mit gemeinsamer Steuerung durch einen Fahrer, die Doppeltraktion, getestet wird.  Der dritte Wagen erscheint dann im Lauf von 2022. Wenn alle Wagen von der Stuttgarter Aufsichtsbehörde die Zulassung für den Fahrbetrieb erhalten, können sie die heutigen, 40 Jahre alten Fahrzeuge endgültig ablösen. Für den neuen Fahrpark mitsamt Ersatzteilpaket wendet die SSB rund 19,3 Millionen Euro auf. Gestalterisch werden die neuen Fahrzeuge dem bewährten Fahrpark von Stadler für die Stadtbahn der SSB weitgehend ähneln und daher wie eine „kurze Stadtbahn“ erscheinen.

 

Auch neue Werkstatt

Für die neuen Wagen braucht die SSB auch eine dafür ausgerüstete Werkstatt. Dafür wird der bestehende Betriebshof an der Filderstraße beim Marienplatz umgebaut und modernisiert. Der Werkstattteil wird erhöht und bekommt eine neue Krananlage, da auf dem Dach der Wagen mehr Baugruppen zu warten sind als bisher. Diese Sanierung läuft planmäßig und wird rechtzeitig zum Eintreffen des ersten Wagens fertig sein.


Steile Tradition

Die Stuttgarter Zahnradbahn war anno 1884 vom Esslinger Unternehmer Emil Kessler als Privatbahn erbaut worden, um den Umsatz seiner Lokomotivfabrik anzukurbeln. Die Bahnlinie brachte anfangs Milch und Handwerker von der Hochebene südlich Stuttgarts, der Filder, in die Stadt und Touristen auf die Höhe, bevor sie sich zur „Arbeiterbahn“ entwickelte.  Die Entwicklung von Degerloch zum gefragten Villenvorort von Stuttgart und zeitweiligem Luftkurort war direkt der Zahnradbahn zu verdanken, auch der Bau des ersten Aussichtsturmes in Stuttgart.

1920 gelangte dieses Netz der so genannten Filderbahn über die Stadt Stuttgart an die SSB. Die jetzt vorbereiteten Wagen von Stadler bilden die fünfte Generation an Fahrzeugen, nachdem 1884 Dampfloks fuhren, ab 1902 elektrische Triebwagen, ab 1935 deren zweite Auflage und ab 1981 die jetzigen, bereits 20 Meter langen Vierachser. Schon seit 1902 gehört die Stromrückspeisung zu den technischen Errungenschaften der Stuttgarter Bahn, also eine besonders hohe Energieeffizienz. Drei historische Fahrzeuge der alten „Zacketse“ von 1898, 1900 und 1950 stehen im Straßenbahnmuseum Stuttgart.

Die zehn Minuten währende Fahrt mit Stuttgarts Zahnradbahn ist kurz, aber außerordentlich genussreich. Entlang gepflegter Bürgerhäuser aus Königs Zeiten, durch grüne Gärten und vorbei am Starrestaurant Wielandshöhe, eröffnet sich ein immer prächtigeres Panorama, zunächst auf den Talkessel und dann beidseitig über die Höhenlagen der Landeshauptstadt. Weil die Linie zum Stuttgarter Nahverkehr gehört, ist sie zudem für den Fahrgast die preisgünstigste Zahnradbahn der Erde, was nicht nur sparsame Schwaben schätzen. Auch unter Stuttgart-Touristen aus aller Welt gewinnt die „Kletterkünstlerin“ zunehmend Freunde.

Foto: Detlev Martin/SSB AG